Im schulischen Kontext sowie in meinen Fotokursen wird immer wieder deutlich, wie sehr viele Fotografierende sich an technischen Dingen festhalten und das eigentlich wichtige Thema, die Bildgestaltung, oft vergessen wird. Daher möchte ich hier nun eine neue Blog-Serie zur Bildgestaltung starten (besonders nachdem ich mein 365-Tage-Projekt abgeschlossen habe).
Darin sollen natürlich die klassischen Gestaltungshilfen wie der Goldene Schnitt, die Drittel-Regel und auch die Fibonacci-Spirale behandelt werden, allerdings auch einfache Praxisübungen mit Gestaltungsmitteln und unbekannteren Gestaltungsrastern, wie der dynamischen Symmetrie.
Gestaltpsychologie
Jegliche Bildgestaltung fußt auf darauf, wie wir optische Reize aufnehmen und verarbeiten. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand in Deutschland das neue Feld der Gestaltpsychologie, das sich genau damit beschäftigt. Wohl die wichtigste Aussage dieses Feldes ist, dass „das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile“. Einer ihrer Hauptbegründer, Max Wertheimer, formulierte in den 1920er Jahren „Faktoren“ der Wahrnehmung, die sich heute als sogenannte Gestaltgesetze etabliert haben. Wertheimer formulierte nur sechs, heutzutage findet man je nach Publikation bis zu über 100. Diese kann ich hier unmöglich vorstellen, daher möchte ich hier nur einige exemplarisch umreißen:
Figur-Grund-Gesetz:
Das in meinen Augen wichtigste Gestaltgesetzt, auf der fast jegliche Bildgestaltung aufbaut: die Frage nach unserem Motiv. Jedem Fotografierenden sollte vor dem Drücken des Auslösers bewusst sein, was ihn gerade dazu bewegt, genau diesen Bildausschnitt zu fotografieren. Irgendetwas hat uns getriggert, die Kamera aus dem Rucksack zu nehmen, die Belichtung korrekt einzustellen und in diese Richtung zu richten. Was genau das ist in vielen Fällen unser Motiv.Wenn wir uns dessen im Klaren sind, ist schon viel gewonnen, aber wir müssen es auch dem Betrachter verständlich machen. Und hier kommt die Figur-Grund-Beziehung ins Spiel. Damit wir zwischen unserem Motiv (der Figur) und dem (Hinter-)Grund unterscheiden können, brauchen wir genügend Kontrast jedweder Art: Farbkontrast, Hell-Dunkel-Kontrast, Schärfe-Kontrast (Schärfentiefe), Größenkontrast, Kalt-Warm-Kontrast, Mengenkontrast und und und – wir brauchen Kontrast. Dabei gilt, dass wir geschlossene und uns bekannte Formen eher als Motiv (Figur) wahrnehmen als unbekannte, freie Formen.Die erste Frage vor dem Fotografieren sollte also stets lauten: Was hat mich bewegt, die Kamera auszupacken und in diese Richtung zu richten? Wenn ich mir selbst dies beantworten kann, dann kommt die Frage, wie ich das dem Betrachter klar mache. Für den Anfang lohnt sich hier ein möglichst einfacher Ansatz: Reduktion. Nahe ran gehen, alles aus dem Bildfeld entfernen, was nicht der Bildaussage dient. Hilft es der Bildaussage? Integrieren. Stört es die Bildaussage nicht? Weg damit. Oder stört es sogar die Bildaussage? Erst recht weg damit.
- schlechte Figur-Grund-Beziehung
- Eindeutige Figur-Grund-Beziehung
Gesetz der Nähe:
Nahe zusammenliegende Elemente werden auch inhaltlich zussamengehörend, als Einheit bzw. als Gruppe wahrgenommen, während voneinander entfernt positionierte Elemente als eigenständig, unabhängig von einander interpretiert werden. Sehr einfach lässt sich das an unserer Schrift erkennen: Einzelne Worte werden dadurch von uns erkannt, dass ihre Buchstaben enger aneinander gruppiert sind. versuchteinmaleinentextzulesenderkeineleerzeichenodersatzzeichenundkeinegroßkleinschreibungaufweistgehtabernurmitvielaufwand! Gruppiert ist es schon viel einfacher…
- Durch die enge Positionierung der beiden wirken sie als Paar
Gesetz der Prägnanz (Gute Gestalt):
Das Gehirn bevorzugt einfache, symmetrische Formen. Einfachheit und Klarheit in der Komposition führen also dazu, dass das Bild leichter verstanden und in Erinnerung behalten wird. Durch die Reduktion auf wesentliche Elemente kann der/die Fotograf*in die Aussagekraft eines Bildes steigern. Die Hauptaufgabe dabei besteht darin, einen guten Mix aus Prägnanz und nötiger visueller Anziehungskraft zu erhalten.
- Klare geometrische Formen beruhigen den Bildaufbau
Gesetz der Geschlossenheit:
Unser Gehirn ergänzt Elemente, um geschlossene Formen zu bilden. Dadurch kann es zusammengehörige Elemente als Eines erkennen oder aber auch Unvollständiges zu einem Ganzen ergänzen. So kann z.B. nur die Fackel der Freiheitsstatue gezeigt werden und uns ist deenoch klar, was gemeint ist. Ein anderes Beispiel ist die unten abgebildete Lineart-Zeichnung. Obwohl wir nur einzelne Linien sehen, ist unser Gehirn problemlos in der Lage die Leerstellen durch bereits Bekanntes zu füllen.
- Unser Gehirn kann die abgebildete Person problemlos vervollständigen
Gesetz der Ähnlichkeit:
Elemente, die einander in Größe, Form oder Farbe ähneln, werden als inhaltlich zusammengehörig, als Einheit oder Gruppe wahrgenommen.
- Die Enten werden als Gruppe und nicht alz Einzeltiere wahrgenommen
Bildgestaltung ist so viel mehr als die bloße Anwendung von irgendwelchen Gestaltungsrastern. Wir müssen verstehen, wie wir wahrnehmen und welche Effekte unsere Wahrnehmung beeinflussen. Erst dann kann gezielt gestaltet werden. Eine enorm hilfreiche Übung dazu war mein letztjähriges 365-Tage-Projekt – mehr dazu findet ihr hier.
Martin